Bielefelder Appell
2021: Update zum Bielefelder Appell
Beitrag vom 18. Oktober 2021
Rote Ampel für Ökonomisierung in Gesundheit, Betreuung und Begleitung
Der Mensch muss in der Daseinsvorsorge im Mittelpunkt stehen und nicht das Geld!
Der 2012 bundesweit gestartete Bielefelder Appell fordert 2021 in einer Aktualisierung zum Ende der Legislaturperiode einen Systemwechsel in der Daseinsvorsorge
Es ist Zeit, nach 25 Jahren das schlechte Ergebnis von Marktlogik und
Neoliberalismus zur Kenntnis zu nehmen und die Qualität von Begleitung, Betreuung
und Pflege wieder an erste Stelle zu setzen. Auch diese Bundesregierung hat keinen
Kurswechsel eingeleitet.
Der Mensch muss in der Daseinsvorsorge im Mittelpunkt stehen und nicht das Geld!
Foto: Pixelio © Rainer Sturm
Alle 27 Betriebsräte und Mitarbeitendenvertretungen in Bielefeld, die für mehr als 26.000 Beschäftigte stehen - in Altenhilfe, Eingliederungshilfe für Menschen mit geistiger und psychischer Behinderung, im Krankenhaus oder in kommunal unterstützten Beratungsstellen und Vereinen -wenden sich an die Öffentlichkeit sowie die Politik und stellen fest: Nun sind plötzlich nicht die „üblichen Verdächtigen“ im Jargon des Neoliberalismus „systemrelevant“ – die Bereiche, die vermeintlich allein Profit erwirtschaften. Die Gesellschaft hat während der Corona-Pandemie unerwartet festgestellt, dass Banken und Autoindustrie allein nicht glücklich machen, wenn trotz hohem Börsenwert und hoher Dividendenausschüttung „das System“ aus anderen Gründen zusammenbricht. Profit heißt nicht gleichzeitig, dass die Gesellschaft Gewinne erzielt.
Seit Mitte der neunziger Jahre hat die Politik Marktmechanismen im Gesundheits- und
Sozialwesen eingeführt - um die „Ausgabendynamik“ zu begrenzen und eine
„Effizienzrendite“ zu erwirtschaften (so z.B. aus der Begründung des
Bundesteilhabegesetzes 2016).
Die Folge ist, dass sich Pflege, Betreuung und Pflege in den letzten 25 Jahren in allen
Bereichen der Daseinsvorsorge zunehmend verschlechterte. Bei 80 % Personalkosten
bedeuten KürzungenvorwiegendEinsparungen beim Betreuungspersonal. Politische
Entscheidungen zur „Kostendämpfung“verschlechtern damit zwangsläufig die
Betreuungsqualität. Christian Janßen, Sprecher des Bielefelder Appells und Vorsitzender der
Gesamtmitarbeitendenvertretung im Dienststellenverbund der Stiftung Bethel sagte gestern,
die Arbeit in Pflege, Betreuung und Begleitung werde immer schwerer, die Personalschlüssel
dagegen immer schlechter: „Seit 1995 stehen ökonomische Faktoren in der Betreuung
zunehmend im Vordergrund, während die Betreuungsqualität in allen Arbeitsfeldern der
gesundheitlichen und sozialen Daseinsvorsorgenur mehr eine untergeordnete Rolle in der
staatlichen Refinanzierung spielt.“
„Die Beschäftigten in der Pflege brauchen gute Arbeitsbedingungen, die nichtkrankmachen, angemessene tarifliche Bezahlung und sie brauchen sicher keinen Druck durch chronische Unterbesetzung, Lohndumping und prekäre Arbeitssituationen“, sagte Anja Piel, Mitglied des geschäftsführenden DGB-Bundesvorstands, die anlässlich der Veröffentlichung der Erklärung ein Grußwort an die Initiative richtete.
Der Bielefelder Appell hat diese Entwicklung bereits seit 2012 angeprangert und festgestellt: Pflege, Betreuung und Begleitung von alten, kranken, geistig und psychisch behinderten sowie sozial geschwächten Menschen wirdvor die Wand gefahren. „Seitdem hat sich die Arbeitsbelastung verschärft. Die Verhandlung der Finanzierung von pädagogisch notwendigen Maßnahmen gelingt immer schwerer: Satt und sauber sind die Kriterien, die überall wichtig geworden sind“, so Janßen. Inzwischen sind etwa die Hälfte der Altenheime privatisiert – eine politische Durchsetzung anständiger Gehälter für alle durch einheitliche Tarifverträge in der Altenhilfe istgerade an den konfessionellen Anbietern Caritas und Diakonie gescheitert. Die enge Pflegesituation im Krankenhaus ist in der Corona-Pandemie offenkundig geworden und hat die psychische Belastung der Beschäftigten deutlich gemacht.Auch hier ist die Privatisierung in manchen Bundesländern weit vorangeschritten. „Personaluntergrenzen haben die Arbeitsbelastung der Pflegenden nicht gesenkt. Anstatt auf der Intensivstation jetzt zwei Patient*innen zu versorgen, ist die Zuständigkeit für drei oder auch vier Patient*innen keine Seltenheit. Darunter leidet die pflegerische Versorgungsqualität“ sagt Ulrich Sigrist vom Bielefelder Bündnis für mehr Pflegepersonal im Krankenhaus.
In der Eingliederungshilfe für Menschen mit geistiger und psychischer Behinderung ist es der Staat durch seineKostenträger selbst, der für eine Verschlechterung von Betreuung und Begleitung verantwortlich ist. So hat einer der Landschaftsverbände in NRW noch 2016 über einenKonsolidierungserfolg in Höhe von 30 Mio. € pro Jahr berichtet– indemnur ein Teil der tariflichen Gehaltserhöhungen den Einrichtungen und Diensten refinanziert wurden.Christian Janßen: „Die Schere zwischen den Kosten und ihrer Refinanzierung klafft immer mehr auseinander. In jeder Verhandlungsrunde seit 1995 sind Einrichtungen und Dienste durch Kostenträger letztlich gezwungen, Personal zu reduzieren. Für die Beschäftigten heißt das auch hier: immer engere Personalschlüssel, zunehmende Arbeitsverdichtung. Mitarbeitende arbeiten elf Tage am Stück, werden aus dem Frei geholt, halten durch bis eine langzeiterkrankte Kollegin wiederkommt, um dann zusammenzubrechen!“
„Der Mensch muss wieder im Mittelpunkt stehen, nicht das Geld. Denn Menschen werden zum Feierabend nicht einfach in´s Regal zurückgestellt, wenn die Kollegin sich krankmeldet“ so Rita Stuke von der Soltauer Initiative. Janßen ergänzt: „Ihr Berufsethos und ihr Engagement verbieten es ihnen, die ihnen anvertrauten Patienten, Nutzerinnen, Klientinnen im Stich zu lassen!“
Deshalb braucht Deutschland einen Systemwechsel – 25 Jahre Verschlechterung vonPersonalschlüsseln und Arbeitsverdichtung sind genug! Das ist eine Neuausrichtung des Wertesystems im Sozial- und Gesundheitswesen durch den Gesetzgeber und entsprechender Veränderungen des Arbeitgeberhandelns. Der Bielefelder Appell fordert deshalb auf der Grundlage einer ehrlichen Bestandsaufnahme einen Systemwechsel:
- Ökonomische Faktoren dürfen nicht mehr im Vordergrund stehen, sondern pädagogische und pflegerische.
- Gesetzlich verankerte, fachkraftbezogene Standards für die Personalbemessung müssen in allen sozialen Arbeitsfeldern festgelegt werden. An deren Verhandlung müssen Mitarbeiterinnen aus der Praxis beteiligt werden.
- Für die Finanzierung ist die öffentliche Hand zuständig. Systemrelevante Arbeit für die Daseinsvorsorge des Staates ist das Geld Wert.
- Nachholende Investitionen in die Daseinsvorsorge heißt:Anständige Gehälter in allen Arbeitsfeldern durch einen Tarifvertrag Soziales bzw. durch eine Orientierung aller Entgeltordnungen am Referenztarif im TvÖD als Mindestgehalt.Schrittweise Anhebung der Gehälter an das Niveau in der Industrie.
- Die Vergabe von Teilhabeleistungen, die aus öffentlichen Mitteln finanziert werden, darf nur an tariftreue Anbieter erfolgen.
- Aufgrund der psychosozialen Arbeitsbelastungen sind 35-Stunden wöchentlich bei vollem Lohnausgleich genug und bieten gleichzeitig einen Schutz der Gesundheit und einen Anreiz für die Gewinnung junger Fachkräfte.
- Privatisierungen in der Daseinsvorsorge werden nicht mehr zugelassen, sie ist öffentliche Aufgabe angeboten durch öffentliche oder frei-gemeinnützige Träger.
- Wiederherstellung der Vermögens- und Unternehmensbesteuerung vor 2000.
- Einführung einer „Bürgerversicherung“ auf alle Einkommensarten ohne Bemessungsgrenze. Als Sofortmaßnahme ist die Anhebung der Beitragsbemessungsgrenze für die GKV auf Höhe der Rentenversicherung umzusetzen.
Bielefeld besitzt mit Bethel, Johanneswerk, Ummeln, den Einrichtungen von AWO, DRK,DiakonieVerband Brackwede und der Gesellschaft für Sozialarbeit eine für Großstädte bundesweiteinmalige Vielfalt und Dichte von Einrichtungen und Diensten in Pflege und Betreuung. Deshalbwenden sich 27 Interessenvertretungen, die insgesamt mehr als 26.000 Beschäftigte vertreten, gerade aus Bielefeld an die Presse und die Politiker.
„Wir 27 Interessenvertretungen verstehen uns in erster Linie nicht als lokale Interessenvertretungen, die sich zu Wort melden, sondern als Warnende für die gefährliche Entwicklung der Daseinsvorsorge in Deutschland“, so Christian Janßen.